Der Fall:
Nico ist 11 Jahre alt und geht in die 5. Klasse einer Realschule. Er war ein sehr guter Schüler, hochsensibel, mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn.
Es begann harmlos, mit den üblichen Hänseleien. Wenn Nico sich meldete, lachte man über ihn, nannte ihn Klugscheißer, Besserwisser.
Er zog es daher vor, sich im Unterricht nicht mehr zu melden. Die Mitschüler änderten darauf hin ihre Strategie und begannen ihn in der Pause auszugrenzen. Sämtliche Freundschaften wurden ihm von Mitschülern kaputt gemacht. Seinen Freunden drohte man Schläge an. Dann wurden ihm seine Schulsachen weggenommen oder beschädigt.
Die Reaktion der Schule: Nico hat keine Freunde, er schließt sich aus, er müsste sich halt anpassen. Er ist selbst Schuld an seiner Situation.
Als man ihn körperlich attakierte begann er sich zu wehren. Dabei gingen die Täter so geschickt vor, dass Nico von den Lehrern beim sich Wehren erwischt wurde.
Die Reaktionen der Schule: Nico wurde nicht angehört, die Klassenlehrerin „Ich will von dir nichts mehr hören“, Strafarbeiten.
Die Verletzungen von Nico wurden ignoriert, Mitschüler die gegen Nico sind befragt und ihnen geglaubt. Nicos schulische Leistungen wurden schlechter, was die die Lehrer in ihrer vorgefassten Meinung bestätigte: „er ist ein Unruhestifter, ein Psycho.“
Die Eltern waren ahnungslos, lebten im Glauben, Nico sei ein guter Schüler, bis zum Halbjahreszeugnis…. Den Eltern wurde angeraten, Nico eine Psychotherapie machen zu lassen. Er habe kein Sozialverhalten und mache nur Ärger. Er würde die Miarbeit verweigern – die angeblich zu 2/3 bei der Notengebung zählt, weswegen er grundsätzlich eine Note schlechter im Zeugnis bekam, als seinen schriftlichen Leistungen entsprach. Erste Andeutungen der Art „Nico gehört in die Förderschule“ wurden laut.
Die Maßnahmen der Eltern:
- Mit Nico wurde ein Intelligenztest gemacht: IQ 130 mit Spitzen weit in die Hochbegabung
- Die Psychologische Untersuchung ergab: Kein ADH, kein ADHS, kein (Asperger-)Autismus, hohe Sozialkompetenz, überdurchschnittlich ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, keine Auffälligkeiten im Verhalten. Die Kenntnisnahme(Annahme) beider Ergebnisse wurde von der Schule verweigert! (Der Psychologe zog auf Druck der Schule hin sein Gutachten zurück.)
- Gesprächsversuche mit der Schule wurden von den Lehrern abgeblockt, zu keinem Zeitpunkt erfogte eine Mitteilung an die Eltern über das „Fehlverhalten“ von Nico oder die erlittenen Verletzungen – durch Mittschüler verursacht.
Die Schule:
Die Schule reagiert einseitig mit Strafmaßnahmen und klassifiziert Nico als Täter. Er wird als Leistungsverweigerer eingestuft und entsprechend benotet.
Mit allen schulischen Mitteln wird Druck auf Nico ausgeübt, die Eltern werden nicht gehört, mobbende Mitschüler schenkt man Glauben.
Das Opfer ist lästig geworden und muß weg, notfalls durch Überweisung an eine Sonderschule.
Die Einstufung:
Olweus (2006) 1 Er teilt die Opfer in zwei Typenklassen ein, passive Opfer und provozierende Opfer. Provozierende Opfer haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und versuchen sich gegen die Übergriffe zu wehren. Die Täter sind häufig so geschickt, dass die Lehrer nicht erkennen, wie diese Schüler gesteuert werden. Die Reaktion des Opfers wird bemerkt und bestraft. Mit zunehmender Häufigkeit der Übergriffe wird das Opfer lästig und die bereits beschriebenen schulischen Maßnahmen laufen an. (Siehe Nico) Deswegen ist stets der Grundsatz zu beachten, dass man genau hinschaut, beide Seiten hört und sich erst dann ein Urteil bildet. Danach werden sinnvolle pädagogische Konsequenzen überlegt, die auch zu erfolgen haben. (Die Anwendung der Ordnungsmaßnahmen des Schulgesetzes stellen kein passendes Mittel dar.)
Folgende Vorgehensweise hätte die Schule befolgen können:
1. Schritt: Situationsauffassung und -bewertung
Affektkontrolle ( Emotionskontrolle)
Das Erstverhalten ist so wenig als möglich von eigenen Affekten und Emotionen des Lehrers geleitet. Da bei einem bedeutenden Konflikt eine emotionale Beteiligung unvermeidlich ist, ist es umso wichtiger, die eigenen Emotionen zu kontrollieren, sonst werden die Chancen einer positiven Lösung von vornherein beeinträchtigt.
Allparteilichkeit
Es müssen alle, die an der Gewaltaktion beteiligt waren, angesprochen und in die Problemlösung miteinbezogen werden. Auch wenn sich der Lehrer zunächst einem verletzten Schüler intensiver zuwenden muss, sollte im nachfolgenden Handeln deutlich werden, dass alle Beteiligten gleichberechtigt angesehen werden. Es darf keine vorschnelle Opfer-Täter-Zuschreibung erfolgen.
2. Schritt: Gewalt unterbinden
Gewalthandlungen beenden
Lehrer, die gewalttätiges Verhalten gegen Personen oder Sachen beobachten, müssen durch ihr Eingreifen sofort klare Grenzen setzen und Gewalttätigkeit soweit wie irgend möglich unterbinden. „Wegsehen“ fördert Gewalttätigkeit.
Deeskalation
Bei den Gewalt regulierenden Eingriffen dürfen Integrität und Würde der beteiligten Personen nicht verletzt werden. „Grenzüberschreitungen“ wie Anfassen oder Wegziehen sollten nur dem Ziel der Gewaltunterbindung dienen und dürfen nicht als vorweggenommene Strafmaßnahme erscheinen. Affektgeleitetes vorschnelles Intervenieren kann zur Verschärfung der Gewaltsituation führen bzw. den Lehrer unnötigerweise in den Konflikt hineinziehen.
Handlungsmöglichkeiten offen halten
Der Lehrer sollte sich in seiner Empörung über das Verhalten von Schülern nicht vorschnell zu Drohungen oder Ankündigungen von Strafmaßnahmen hinreißen lassen. Diese könnten sich später bei genauerer Betrachtung des Konflikts als unangemessen oder unhaltbar erweisen. Beim Eingreifen in einen Konflikt ist es daher wichtig, sich alle weiteren Schritte offen zu halten und erst auf dem Hintergrund aller relevanten Informationen das weitere Handeln zu entwickeln.
3. Schritt: Festlegung der nächsten Handlungsschritte
Handlungsaufschub
In dieser Phase gewinnt der Lehrer Abstand von den vorhandenen Emotionen und kann in Ruhe darüber nachdenken, welche weiteren Schritte jetzt zu unternehmen sind. Er darf sich die Zeit für einen Handlungsaufschub gönnen, um dann mit klarem Kopf an die nachfolgenden Maßnahmen heranzugehen.
Die Zeit für einen Handlungsaufschub wird sich in Kürze „amortisiert“ haben.
Alternative Konfliktbewältigung
Den Beteiligten und den Beobachtern wird durch das Eingreifen des Lehrers auch deutlich, dass dieser nicht nur diese gewaltsame Art der Konfliktlösung missbilligt; der Lehrer zeigt ihnen auch – durch Wort und Tat – sein Bestreben, alternative Formen der Konfliktbewältigung zu entwerfen und einzuführen.
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Der Schule sind dazu „Das Interventionskonzept von Dan Olweus“ (Juli 2007) 1 und der „No Blame Approach – Mobbing-Interventionsansatz ohne Schuldzuweisung“, (Mai 2010)2 zu empfehlen.
Den Eltern kann man leider nur empfehlen:“Nehmen Sie Ihr Kind von dieser Schule“. Es gibt in diesem Fall keine andere Möglichkeit bzw. keine prosoziale Lösung.
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1 Olweus, Dan Gewalt in der Schule. Was Lehrer und Eltern wissen sollten – und tun können (Broschiert) , Huber, Bern 2006
2 Zur zeit nur unter http://www.no-blame-approach.de oder hier