Ignoranz oder Unwissenheit

Ich bin 36 Jahre alt und alleinerziehende Mutter von 9-jährigen Zwillingen.

Seit fast zwei Jahren bin ich der Meinung, dass meine Kinder in der Schule gemobbt werden. Es gibt in unserem Ort eine andere Familie, auch mit Zwillingen, von denen ich Abstand nehme, weil ich in ihr Niveau nicht mit hineingezogen werden möchte. Mehr möchte ich hierzu nicht anführen. Jedenfalls gehen dessen Kinder in die gleiche Schulklasse, wie meine und beschimpfen meine Kinder ständig, sie wären eine Seuche, würden stinken, egal was sie auch anhaben, an allem wird gemeckert, sie wären eklig, es fällt den Beiden täglich etwas Neues ein. Bisher allerdings immer nur verbal. Mehrere Gespräche mit der Klassenleiterin und der Schulleitung haben nichts gebracht. Mir wurde nur gesagt, dass ich mich nicht ständig einmischen sollte, das wären alltägliche Kinderstreitigkeiten. Meine Tochter ist soweit, dass sie tagsüber manchmal in die Hose macht, mein Sohn ist zwar weniger betroffen, nässt nachts ständig ein.

Heute hole ich meine Kinder von der Schule ab und meine Tochter kommt mir weinend entgegen. Dann wird mir erzählt, dass sie von diesen Beiden Kindern auf dem Schulhof umher gestoßen wurde, sie holten noch 5 Jungs dazu, die mussten meine Tochter festhalten und die Mädchen haben auf sie eingetreten. Erst als ein anderes Kind die Hofaufsicht darauf angesprochen hat, ging sie dazwischen. Konsequenzen für die anderen Kinder gab es nicht.

Meiner Tochter schmerzte der Arm, weil die Jungs ein Tauziehen in beide Richtungen mit ihr veranstalteten und sie hatte feuerrote Knie. Als wir zu Hause waren, hörte sie vor Schmerzen nicht auf zu weinen, weshalb ich mit ihr in die Notaufnahme fuhr, weil hier am Mittwochnachmittag kein Arzt auf hatte. Leider war dort nur eine Assistenzärztin, die das Röntgenbild nicht ganz deuten konnte und nun bekomme ich morgen das endgültige Ergebnis, entweder liegt eine Muskelzerrung vor, wo eine Wachstumsfuge erheblich gedehnt wurde oder es ist ein Bruch und hat mit der Wachstumsfuge nichts zu tun.

Also werde ich morgen früh wieder in die Schule gehen müssen und mir wieder anhören, dass sich die Eltern nicht einmischen sollen. Meine Tochter kann aufgrund dessen morgen nicht mit zur Hortabschlußfahrt gehen, am Montag hat die Klasse Wandertag, sie gehen zum Kegeln und die Täter kommen ungeschoren davon, wie immer. Sie haben noch nicht einmal einen Eintrag ins Hausaufgabenheft bekommen oder irgendeine andere Konsequenz. Auch das Schulamt sieht keinen Handlungsbedarf, es sind ja nur Kinder.

Eine Anzeige kommt ja auch schlecht in Frage, da die Kinder ja erst 9 Jahre alt sind. Schon vor zwei Jahren hatte ich für meine Tochter einen Klassenwechsel beantragt, der abgelehnt worden ist. Nur damit wäre ihr selbst jetzt nicht mehr geholfen, da die Übergriffe meist in den Pausen und den Unterrichtsstunden stattfinden, wo die Klassenlehrerin nicht anwesend ist und die anderen Lehrer schauen einfach darüber hinweg.

Stellungnahme:

A Es handelt sich nicht um die alltäglichen Kinderstreitigkeiten“   – eine übliche Reaktion von „solchen“ Schulen -,  sondern um eine falsch verstandene Toleranz:
Die gängige Praxis, Schülermobbing stillschweigend zu tolerieren, zeugt von einer völlig falsch verstandenen Toleranz und einer weit verbreiteten „nicht sozialen“ Verhaltensweise. Es kann nicht genügend betont werden, dass
•     …es sich bei Schülermobbing nicht um ein „normales“, tolerierbares oder gar vernachlässigbares Phänomen handelt, das sich „von alleine“ erledigt.
•     …die betroffenen Kinder und Jugendlichen massiv traumatisiert werden und oftmals lange Zeit psychisch extrem belastenden Situationen ausgesetzt sind. Dies wirkt sich aufgrund der entstehenden Isolation äußerst fatal und destruktiv auf ihr Selbstbild, ihre Lebensfreude und Leistungsfähigkeit aus, da sie oftmals über lange Jahre hinweg keine Möglichkeit haben, akzeptable und positive Formen eines sozialen Miteinanders zu erlernen.
•     …die betroffenen Kinder und Jugendlichen durch die erlittene soziale Ausgrenzung auf schwerste Weise nachhaltig mittel- und langfristig in ihrer weiteren Entwicklung beeinträchtigt werden und oftmals noch im Erwachsenenalter unter diesen Folgen zu leiden haben.
•     …solcherart geschädigte Erwachsene letztendlich im Erwachsenenalter auf ihr jeweiliges Umfeld immer wieder problematisch zurückwirken werden und dann später oftmals auch nicht in der Lage sind, ein erneut auftauchendes Ausgrenzungsproblem bei ihren eigenen Kindern adäquat zu lösen. Eine Ausgrenzungsspirale kann sich also unter ungünstigen Umständen über mehrere Generationen immer wieder neu inszenieren.
•    …die Pädagogen Mobbing häufig in seiner Natur verkennen und mit spontanen und  falschen Interventionen die Situation des Opfers verschlimmerten. Obwohl die gewonnenen Befunde keine direkte Ursachenzuweisung für den Mangel an erfolgreichen Interventionen erlauben, lässt sich prognostizieren, dass Eltern im ersten Schritt mit ihrer “Bitte” um Hilfe bei den Klassenlehrern nur selten den erhofften Erfolg zu erwarten haben.

B Die Mobbingdefinition (und das belegen viele Studien1 ):
Genese: Konrad Lorenz2 :Mobbing ist das aggressive Verhalten von mehreren Gruppenmitgliedern gegen ein einzelnes Tier, um dieses zu vertreiben. Mobbing bedeutet Anpöbeln, Fertigmachen
(mob = Pöbel, mobbish = pöbelhaft).

Leymann, Olweus et.al definieren auf der Basis von Lorenz:
Mobbing sind Handlungen negativer Art, die durch eine oder mehrere Personen gegen eine Mitschülerin oder einen Mitschüler gerichtet sind und über einen längeren Zeitraum vorkommen 4.
Mobbing bzw. Bullying erfordert ein Ungleichgewicht der Kräfte zwischen Opfer und Täter.
Es handelt sich nicht um Mobbing, wenn zwei gleich starke Schüler miteinander streiten4.
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2) Lorenz Konrad: Das sogenannte Böse: Zur Naturgeschichte der Aggression, DTV (Januar 1998)
3) Olweus Dan: Gewalt in der Schule. Was Lehrer und Eltern wissen sollten – und tun können, Huber, Bern, 2006
4) Leymann, Heinz: Mobbing. Psychoterror am Arbeitsplatz Rowohlt Hamburg 1993
Definition in Anlehnung an Leymann (1995), Esser/Wolmerath (1997), Olweus (2006), Meschkutat (2002),
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Die Stufe des Mobbings ist in Ihrem Fall bereits überschritten, denn es liegt physische Gewalt vor.
Es ist außerdem falsch, dass Sie sich raushalten sollen, vor allem wenn die Verhältnisse tatsächlich so sind, wie von Ihnen dargestellt, und davon gehe ich aus.

C Die (schul-)rechtliche Situation:

Da es sich bei Schülermobbing definitionsgemäß um Mobbing handelt, welches in der Schule oder im Kontext der Schule (z. B. Schulweg) stattfindet, ist in erster Linie die Schule (Lehrer und Schulleitung) zuständig. Im Sinne des gesetzlich vorgesehenen Elternrechtes, sind jedoch an erster Stelle die Eltern aufgerufen bzw. anzusprechen, in der Schule zu intervenieren. ( Sie müssen sich nicht raushalten, Irrtum der Schule ) Die Grundlage für eine Mobbingberatung bildet die Rechtskonstellation bestehend aus den
Rechten des Kindes (Artikel 19 der UN Konvention, 1991), der Schulpflicht, der allgemein geltenden Amtspflicht Lehrender (Artikel 34 Satz 1 GG) und das Erziehungsrecht der Eltern. Auf dieser Basis und im Interesse der Kinder ist es das Ziel, für die Betroffenen einen gangbaren Weg zu finden, der zum einen zum sofortigen Ende von Mobbingattacken führt und darüber hinaus den Opfern in Zukunft wieder eine sichere Umgebung schafft.

Die  Schulgesetze aller Bundesländer besagen, dass “jeder junge Mensch ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung erhält (…)” (z.B. §1 Abs. 1 SchG BW o.ä. in anderen Bundesländern). “Über Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus ist die Schule insbesondere gehalten, die Schüler (…) zur Achtung der Würde und der Überzeugung anderer, zu Leistungswillen und Eigenverantwortungsowie zu sozialer Bewährung … und in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit (…) zu fördern, zur Anerkennung der Wert- und Ordnungsvorstellungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu erziehen (…) (§1 Abs. 2 SchG BW o.ä.).

Aufgrund der Pflicht die Schule zu besuchen, “Schulpflicht besteht für alle Kinder und Jugendlichen liegt die Aufsichtspflicht und Verantwortung über das Schulwesen beim Staat: “Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.” (Artikel 7 Abs. 1 GG). Zuständig für die Gesetzgebung des Schulwesens sind die Länder, wobei alle (Schul-)Gesetze der Länder mit dem Grundgesetz vereinbar sein müssen.

Im Grundgesetzes heißt es, dass “jeder das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (…) (Artikel 2 Abs. 1 GG)” hat, sowie “das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit” (Artikel 2 Abs. 2 GG). In der UN Konvention heißt es weiter, dass Kinder grundsätzlich das Recht haben, in Gesundheit heranzuwachsen (Artikel 24 der UN Konvention, Rechte des Kindes, 1991), wobei Gesundheit als “körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden,
und nicht nur als das Freisein von Krankheit und Gebrechen” (definiert durch die Weltgesundheitsorganisation) zu verstehen ist.
Die Aufsichtspflicht der Schule über die Schüler(innen) ergibt sich aus dem staatlichen Erziehungsauftrag (Artikel 7Abs. 1 GG) und dem Minderjährigenschutz, d.h. dass während der Schulzeit die Schule die Verantwortung für die Schüler(innen) trägt. Die Obhuts- und Fürsorgepflicht sowie die Amtspflicht der Lehrer (Artikel 34 Satz 1 GG) regelt zusätzlich die Primärverantwortung: Lehrer haben die Pflicht, Schulkinder vor Schäden “in Gesundheit und Vermögen, wie auch vor Verletzung anderer grundrechtlich geschützter Güter” (OLG-Zweibrücken, Beschluss vom 05.06.97, 6 U 1/97) zu bewahren.
( Das macht die Schule offensichtlich NICHT!)
Die Amtspflicht besagt weiter, dass sich jeder Lehrer bei seiner Amtsausübung sämtlicher Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte zu enthalten hat. Das schließt das bürgerliche Recht (§ 823 Abs. 1 BGB), welches die allgemeinen Persönlichkeitsrechte der Kinder enthält, mit ein (OLG-Zweibrücken, Beschluss vom 05.06.97, 6 U 1/97). Falls die Rechte der Schüler gefährdet sind und z.B. Lehrer nicht eingreifen, verhalten sie sich rechtswidrig und schuldhaft, d.h. sie verletzen ihre Amtspflicht. ( So wie an der Schule ihrer Kinder!!) Wenn also Mobbing passiert, so liegt die primäre Verantwortung für die Erziehungsarbeit eindeutig beim Klassenlehrer. Der Schulleiter ist der Vorgesetzte der Lehrer und übt die Dienstaufsicht aus (§ 41 Abs. 2 SchG BW o.ä.). Somit hat er für die Einhaltung der Rechtsvorschriften zu sorgen (LDO, §24).

Die Rechte des Kindes enthalten in Artikel 54 der UN-Konvention ein Recht an Partizipation der Kinder (Alter und Reife gestaffelt), also Entscheidungsgewalt innerhalb des Schulsystems. Demnach sollte Schülern ein Mitspracherecht eingeräumt werden, wenn beispielsweise die Schulleitung einen Mitschüler von der Schule verweist. Kinder sind also, was ihre Belange in der Schule betrifft, zur aktiven Teilnahme aufgefordert (Children’s Rights Development Unit [CRDU], 1993). Dem steht entgegen, dass der Schutz des Kindes stets Vorrang hat: Wird ein Kind also massiv schikaniert, so hat dieses Kind zwar einen Anspruch auf Mitsprache, was beinhaltet, dass Eltern ihr Kind über geplante Gespräche mit Lehrern informieren, die Kinder andererseits aber zum Schutz vor weiterer (gesundheitlicher) Belastung nicht aktiv teilnehmen lassen. Aufgrund des Alters Ihrer Kinder vertreten Sie die Rechte Ihrer Kinder.
Eine Überprüfung auf Förderbedarf L und/oder E ihrer Kinder ist abzulehnen (UN Behindertenrechtskonvention könnte hier greifen) Zudem läge eine Ausgrenzung oder Abschiebung seitens der Schule vor, also eine Ablehnung o.g. Pflichten und Verantwortungen! ( Eine übliche Idee von solchen Schulen!)

In schwerwiegenden Fällen und als letzte Möglichkeit (abgesehen von einer Klage bei dem Verwaltungsgericht) können die Eltern der Schulleitung oder der Aufsichtsbehörde eine Strafanzeige in Aussicht stellen (etwa bei unterlassener Hilfeleistung, unter Umständen gar unter dem Gesichtspunkt der Mittäterschaft), ebenso können Sie auf die Möglichkeit einer Amtshaftungsklage gem. § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG in geeigneter Form (Gebot der Sachlichkeit!) hinweisen, etwa wegen des Ersatzes für Kosten, die dadurch entstehen, dass das Kind von der Schule genommen und fortan in einer Privatschule unterrichtet werden muss. Spätestens bei derart massiven Konfliktfällen ist die Einholung eines anwaltlichen Rates oder der Beistand eines Rechtsanwaltes geboten.

Hinweis: Dies ist keine rechtsverbindliche  Auskunft, sonder lediglich eine Beratung. In letzter Konsequenz ist das Hinzuziehen eines Anwaltes unumgänglich. Besser: Einsicht von allen Parteien. Mobbing ist ein gruppendynamischer Prozess an dem alle beteiligt sind. Demzufolge ist das gemeinsame Streben nach prosozialen Lösungen angezeigt und keine einseitige Täter/Opfer Zuordnung.